Eine kritische Lektüre des Camino

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Autor: Adolf Sawoff (Universität Graz): Eine kritische Lektüre des Camino von Josemaría Escrivá de Balaguer

 En un mundo de virtudes agotadas,
es necesario aplicar el bisturí
a todo lo que en nuestro tiempo
pasa por virtuoso.[1]

Die Sammlung von 999 Maximen[2] des Gründers des Opus Dei, Escrivá de Balaguer,[3] mag wohl als ein atypisches Studienobjekt in einer Festschrift zu Ehren eines Romanisten erscheinen. Die Aufnahme von nicht belletristischen Schriften in die literaturwissenschaftliche Betrachtung hat jedoch in der spanischen Literaturgeschichte Tradition: manche Geschichtswerke, politische oder philosophische Essays und Schriften religiöser Inspiration haben ihren fixen Platz im Kanon.[4] Die Kriterien für die Aufnahme derselben scheinen jedoch meist solche stilistischer und ästhetischer Exzellenz zu sein. Da sich Escrivá de Balaguer in seiner Sammlung bewußt in die literarische Tradition der Kurzform der Maxime einzureihen bemüht, ist es zumindest interessant, sein Werk etwas näher in Hinblick auf Literarizität und Aussage zu betrachten. Eine „kritische Lektüre“ kann vielleicht einen Vorteil des Gattungstypus „Rezension“ für sich in Anspruch nehmen, nämlich dem Leser über eventuell noch nicht Gelesenes, mit einem Minimum an Zeitaufwand, Lust auf mehr zu machen, ihn zu informieren oder ihn auch vor dem rezensierten Werk zu warnen. Ob Camino einen Platz neben den Schriften von Johannes vom Kreuz, Teresa von Ávila und Baltasar Gracián einnehmen können wird, bleibt vorerst offen. Ein weiterer Grund für die Beschäftigung mit diesem Buch mag sein ungeheurer Verkaufserfolg sein: in ca. 50 Sprachen übersetzt, hatte es schon vor drei Jahren die Viereinhalb-Millionen- Grenze überschritten und ist somit eines der meistverkauften Bücher spiritueller Literatur aller Zeiten. Die oben erwähnte, vom Autor gewiß intendierte Einbettung seines Werkes in die literarische Tradition der Maxime ist an einigen konstituierenden Merkmalen erkennbar: der Prosacharakter und die Ungebundenheit; die Bemühung um Kürze und Prägnanz, die moralisierende Absicht sowie der gnomische Anspruch höherer Erkenntnis.[5] Ob die durchgehend numerierten 999 Einheiten der Gattung der Maxime tatsächlich entsprechen oder nicht, sei vorerst dahingestellt. Die wichtigste Quelle, aus der der Autor seine Sprüche speist, ist die Bibel. Es sind dies über 150 wörtliche bzw. sinngemäße Zitate, wobei die ersten immer auf Lateinisch zitiert werden und mit spanischer Übersetzung des Autors und seiner entsprechenden moralischen Ermahnung versehen sind. Oft zitiert der Autor auch aus Briefen, die er von meist jungen Mitgliedern des „Werkes“ bekommen hat, die ihm dann den Anlass bieten, dem Briefschreiber eine belehrende, quasi dialogisierende Antwort zu geben bzw. eine Reflexion oder Erkenntnis zu formulieren.[6] Wenngleich es viele Aussagen mit Anspruch auf zeitlose Allgemeingültigkeit gibt, so überwiegt die Zahl der Einheiten, in denen er einen Adressaten direkt mit tú anspricht, was den epistolaren Charakter der Anlassbelehrung auch bei diesen suggeriert. Einige Male zitiert er – intertextuell und ohne Angabe – Teresa von Ávila (vgl. Fußnote 15), einige umgangssprachliche Volksweisheiten[7] und ein einziges Mal einen volkstümlichen Vierzeiler, den er gleich „a lo divino“ umdeutet.[8]

In einem 14-zeiligen, gedichtähnlichen „Prólogo del Autor“ wird dem Leser die langsame, meditative Lektüre seiner „consideraciones“ und „confidencias“ nahegelegt, um dadurch das eigene Leben zu bessern und den „Weg“ des Gebetes und der „Liebe“ einzuschlagen.[9] Vielleicht in Anlehnung an Graciáns „discreción“- Postulat lautet die letzte Zeile des Prologs „[para que] acabes siendo un alma de criterio“. In Nr. 33 ist auch vom erstrebenswerten Ziel, ein „hombre de criterio“ zu sein, die Rede. Der Autor meint hier gewiß das anzustrebende Urteilsvermögen, das auf einer intellektuellen Überlegenheit fußt.[10] Einige der in der Folge behandelten Themen sind vom Autor selbst als 46 Kapitelüberschriften angegeben. Ein dem Buch hintangefügter „Índice Analítico“ kommt gar auf 194 thematische Stichwörter. Da ständig Betrachtungen über eine modellhafte, zielstrebige Lebensführung mit Reflexionen über katholische „Wahrheiten“ vermengt werden, werde ich, soweit praktikabel, diese letzteren unberücksichtigt lassen und mich auf Inhalt und Aussage der restlichen Sprüche konzentrieren. Nach des Autors katholisch orthodoxer Logik dürfen die „Wahrheiten“ ja keiner Diskussion unterzogen werden, und daher ist auch der vorgeschlagene „Weg“ der Lebensführung einem strikt autoritären Ideal untergeordnet. Die universale Autorität ist die Weltkirche:

‚Et unam, sanctam, catholicam et apostolicam Ecclesiam!...‘ – me explico esa pausa tuya, cuando rezas, saboreando: creo en la Iglesia, Una, Sancta, Católica y Apostólica... (517)

Ese grito –‚serviam!‘– es voluntad de ‚servir‘ fidelísimamente, aun a costa de la hacienda, de la honra y de la vida, a la Iglesia de Dios. (519)

517 „Et unam, sanctam, catholicam et apostolicam ecclesiam“. Ich verstehe gut,daß du diese Worte langsam und bewußt aussprichst: Ich glaube an die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche...

519 Der Ruf „serviam!“ bezeugt den Willen, der Kirche Gottes ganz treu zu „dienen“, auch auf Kosten des Besitzes, der Ehre und des Lebens.

Um das Ziel zu erreichen, habe der den Heilsweg Beschreitende sich einem „Director“ unterzuordnen, dessen Führung und Beschlüsse bedingungslos zu befolgen sind. Der „Obediencia“ sind ein eigenes Kapitel (614 bis 638) sowie etliche weitere einzelne Hinweise gewidmet. Dem Priesterstand, dessen soziales Hauptmerkmal Würde („gravedad“) zu sein habe, sei überhaupt die allergrößte Hochachtung entgegenzubringen. In diesem Zusammenhang erscheint auch die einzige (negative!) Erwähnung von Humor in diesem humorlosen Buch:

¡Qué poca finura de espíritu –y qué falta de respeto– supone dedicar bromas y vayas al Sacerdote –quien sea– bajo ningún pretexto! (69)

69 Es zeugt von wenig Takt und Feingefühl sowie von Mangel an Respekt, wenn man den Priester, wer er auch sei und gleich unter welchem Vorwand, zur Zielscheibe des Scherzes und der Spöttelei macht.

Die Überhöhung des eigenen Standes gipfelt in:

El Sacerdote –quien sea– es siempre otro Cristo. (66)

66 Der Priester, wer auch immer, ist stets ein zweiter Christus.

(Auch hier „Sacerdote“ mit der im Spanischen bei Hauptwörtern unüblichen Majuskel.) Diese „gravedad“ wird auch für den sich durch den Weg Lesenden empfohlen:

Gravedad – deja esos meneos y carantoñas de mujerzuela o de chiquillo. –Que tu porte exterior sea reflejo de la paz y el orden de tu espíritu. (3)

3 Würdiges Auftreten. – Gewöhne dir deine Affektiertheit und dein kindisches Getue ab. – Deine Haltung muß den Frieden und die Ordnung deines Geistes widerspiegeln.

Obwohl der Autor wiederholt dem heiligen Wahn das Wort spricht und auch die Vorteile einer kindesähnlichen Entmündigung preist, so erscheint hier der selbstästhetisierende Ehrbegriff des imperialen Spaniens. Der bildhafte, misogyne Hinweis auf „das liederliche Frauenzimmer“ („mujerzuela“) wird in der Übersetzung geflissentlich vermieden und zu „Affektiertheit“ abstrahiert. Auffallend ist im ganzen Werk die Hinwendung an den männlichen Leser, ist ja das zu erreichende Ideal der Führungswille und die Männlichkeit:

Sé recio. –Sé viril. –Sé hombre. –Y después... sé ángel. (22)

22 Sei stark. – Sei aufrecht. – Sei männlich. – Und dann... sei ein Engel

Um dies zu erreichen, muß der eigene Wille ständig durch Verzicht gestählt werden:

Voluntad: es una característica muy importante. No desprecies las cosas pequeñas. Porque en el continuo ejercicio de negar y negarte en esas cosas [...] fortalecerás, virilizarás, con la gracia de Dios, tu voluntad, para ser muy señor de ti mismo, en primer lugar. Y, después, guía, jefe, ¡caudillo!..., que obligues, que empujes, que arrastres, con tu ejemplo y con tu palabra y con tu ciencia y con tu imperio. (19)

19 Wille. Ein sehr wesentliches Kennzeichen. Verachte die kleinen Dinge nicht. Niemals sind sie belanglos und nichtig, denn durch ständige Oberwindung und Selbstverleugnung in den Kleinigkeiten bildest und stärkst du mit der Gnade Gottes deinen Willen. So wirst du zuerst einmal Herr deiner selbst und dann Wegweiser und Führender, [sic!, denn „caudillo“ entspricht eigentlich dem deutschen Wort „Führer“] der die anderen durch sein Beispiel und sein Wort, sein Wissen und seine Ausstrahlungskraft ermutigt, anspornt und mitreißt.

Diese Tugenden (?) der Männlichkeit („espíritu de varón“, 51) sind ja Voraussetzung für die ständige Bereitschaft zum Kampf auf dem Weg nach oben im Beruf und in der Welt, der wiederum hin zum Weg nach „Oben“ (= ins himmlische Jenseits) führt.

Die Bereiche Krieg und Kampf liefern dem Autor etliche Bilder und sind im Kontext des aufkommenden Faschismus, der Entstehungszeit des Camino, zu sehen, wenngleich es in der katholischen Kirche schon lange die asketische Tradition der militia Christi gibt.

Hace falta una cruzada de virilidad y de pureza que contrarreste y anule la labor salvaje de quienes creen que el hombre es una bestia. […] (121)

121 Es bedarf eines Feldzuges für Männlichkeit und Reinheit, um die verheerende Arbeit derjenigen zu durchkreuzen und auszulöschen, die den Menschen für ein Tier halten. [...]

Franco sollte etwas später seinen Aufstand und den darauffolgenden Krieg gegen die legitime republikanische Regierung auch als „cruzada“ (Kreuzzug) stilisieren. Immer wieder ist von Verteidigung und Angriff (238), Niederlage und Sieg, (240, 263), vom Heer der Aposteln und vom Kampf die Rede (602). Kontextuell völlig unvermittelt erscheint im Kapitel vom „Inneren Leben“ („Más de vida interior“) ein Lob des Krieges:

¡La guerra! –La guerra tiene una finalidad sobrenatural –me dices– desconocida para el mundo: la guerra ha sido para nosotros... –La guerra es el obstáculo máximo del camino fácil. –Pero, tendremos, al final, que amarla, como el religioso debe amar sus disciplinas. (311)

311 Der Krieg! – Der Krieg hat ein übernatürliches Ziel, sagst du, das der Welt verborgen ist: der Krieg ist für uns... Der Krieg ist das größte Hindernis für einen bequemen Weg. – Aber schließlich werden wir ihn lieben müssen wie ein Mönch seine Bußgeißeln.

Bei wohlwollender Lektüre mag diese Sehnsucht der Selbstzerstörung auf einer „inneren“ Ebene zu verstehen sein, beklemmend wirkt sie allemal! Die vom Autor des öfteren verwendeten Begriffe wie „cruzada“ und „caudillo“ (Kreuzzug – Führer) gehören ohnehin zum Wortschatz des nationalkatholischen Faschismus Spaniens.

Die Verherrlichung des Kampfes und die Empfehlung, in der Welt berufliche Exzellenz und Führungspositionen zu erreichen, scheinen mit der mittelalterlich anmutenden, statischen Auffassung von Hierarchie und Standeszugehörigkeit in keinem Widerspruch zu stehen. Der Ehrgeiz, zu führen, möge nach außen gerichtet sein; gegenüber den Instanzen kirchlicher Autorität wird Unterwerfung und Gehorsam gefordert:

Si sientes impulsos de ser caudillo, tu aspiración será: con tus hermanos, el último: con los demás, el primero. (365)

365 Wenn du die Regung verspürst, andere zu leiten, dann muß dein Bestreben sein: bei deinen Brüdern der letzte, sonst der erste. [Die Übersetzung blendet hier wieder geflissentlich den politisch besetzten Begriff „caudillo” (Führer) aus.]

Das geduldige Dienen in untergeordneter Position wird aber, wahrscheinlich für die Nicht-Führer-Persönlichkeiten und in der Ausübung von Ämtern innerhalb der Opus- bzw. der Kirchenhierarchie, auch empfohlen:

Me preguntas... y te contesto: tu perfección está en vivir perfectamente en aquel lugar, oficio y grado en que Dios, por medio de la autoridad, te coloque. (926)

926 Du fragst mich..., und ich antworte dir: Die Vollkommenheit liegt für dich darin, an dem Platz, in dem Beruf und in der Stellung vollkommen zu leben, wohin Gott dich durch die Obrigkeit gestellt hat.

Beschlüsse der „Obrigkeit“ („autoridad“) sind somit als der Wille Gottes anzusehen! Unzufriedenheit mit der eigenen Position und der Wunsch, eine dem eigenen Talent entsprechende Stellung anzustreben, können nur Einflüsterung der Hölle sein:

¿Oyes? –En otro estado, en otro lugar, en otro grado y oficio harías mucho mayor bien. –¡Para hacer lo que haces no hace falta talento!... –Pues yo te digo: donde te han puesto agradas a Dios..., y eso que venías pensando es claramente sugestión infernal (709).

709 Hörst du? – In einem anderen Stande, an einem anderen Ort, in einer anderen Stellung und in einem anderen Beruf könntest du viel mehr Gutes leisten. Für deine gegenwärtige Tätigkeit braucht man doch kein Talent! Ich dagegen sage dir: Dort, wohin du gestellt bist, gefällst du Gott... Was du da dachtest, ist eindeutig eine teuflische Eingebung.

Da ja das gesellschaftliche und berufliche Streben im weltlichen Bereich gleichsam ein Gebot des Opus Dei ist, kann hier wohl nur das Dienen in der kircheninternen Hierarchie, wo der Teufel bekanntlich nie schläft, gemeint sein. Vielleicht angeregt durch die in Ortega y Gassets Essay España invertebrada (1921) ausgedrückte Überzeugung[11], daß Spaniens Übel die Folge des Nicht- Dienen-Wollens der Volksmasse sei, sieht Escrivá de Balaguer darin gar das Übel in der Welt und verwendet dabei die alte Metapher des menschlichen Körpers als Sinnbild für das soziale Gefüge:

¡Qué afán hay en el mundo por salirse de su sitio! –¿Qué pasaría si cada hueso, cada músculo del cuerpo quisiera ocupar puesto distinto del que le pertenece? No es otra la razón del malestar que hay en el mundo. –Persevera en tu lugar, hijo mío: desde ahí ¡cuánto podrás trabajar por el reinado efectivo de Nuestro Señor! (832)

832 Welche Sucht in der Welt, von seinem Platz wegzukommen! – Was würde geschehen, wenn jeder Knochen und Muskel des menschlichen Körpers einen anderen Platz einnehmen wollte als den, der ihm zukommt? Das ist der eigentliche Grund für das Unbehagen der Welt. Harre aus an deiner Stelle, mein Kind: wieviel kannst du von dort aus für die Verwirklichung des Königtums unseres Herrn tun!

Um das statische, autoritäre Weltbild zu huldigen, muß auch eine der Glorien Spaniens, Diego Velázquez, herhalten:

Jerarquía. Cada pieza en su lugar. –¿Qué quedaría de un cuadro de Velázquez si cada color se fuera por su sitio, cada hilo de la tela se soltase, cada trozo de madera del bastidor se separase de los otros? (624)

624 Hierarchie. – Jeder Teil an seinem Platz. – Was würde aus einem Bilde von Velázquez, wenn jede Farbe ihren Platz verließe, wenn sich jeder Faden aus der Leinwand löste, wenn jedes Holzstück des Rahmens sich vom anderen trennte?

Aus mehreren Maximen kann man auch Rückschlüsse auf das Kunstverständnis des Autors schließen:

¡Cultura, cultura! –Bueno, que nadie nos gane a ambicionarla y poseerla. –Pero la cultura es medio y no fin! (345)

345 Bildung, Bildung! – Gut, soll uns keiner darin übertreffen, sie anzustreben und zu besitzen. Aber Bildung ist Mittel und nicht letzter Wert.

Die geringe Wertschätzung kulturellen Strebens ist leicht zu erkennen: als notwendiges Mittel beim Seelenfang soll man sie zwar gekonnt ausüben, aber höchster Ausdruck menschlichen Geistes ist sie seiner Ansicht nach gewiss nicht!

Und wenn ihm der Maler Velázquez als Beispiel hierarchischer Wohlstrukturiertheit dient, so werden die modernen Künstler nicht so wohlwollend betrachtet:

[...] Además, lo mismo que la de esos pintores modernistas, es la visión de ciertas personas tan subjetiva y tan enfermiza, que trazan unos rasgos arbitrarios, asegurándonos que son nuestro retrato, nuestra conducta... (451)

451 [...] Darüber hinaus, ist die Sicht mancher Menschen, ähnlich wie die mancher moderner Maler, derart subjektiv und krankhaft, daß sie einige willkürliche Züge hinwerfen und uns versichern, das sei unser Bild und unser Verhalten...

Was die Tonkunst betrifft, so wird dem Leser lediglich das Lernen von Kirchengesängen nahe gelegt (vgl. 523). Bei den zwei Maximen, die von Büchern handeln, scheint eine auf Erlebnisse seiner Universitätszeit zurückzuge8 hen, weil er darin die Enttäuschung beklagt, keine geschenkt bekommen zu haben:

Libros. –Extendí la mano, como un pobrecito de Cristo, y pedí libros. ¡Libros!, que son alimento, para la inteligencia católica, apostólica y romana de muchos jóvenes universitarios. –Extendí la mano, como un pobrecito de Cristo... ¡y me llevé cada chasco! […] (467)

467 Bücher. – Ich streckte die Hand aus wie ein Armer Christi und bat um Bücher. Bücher! Sie sind Nahrung für den römisch, katholisch und apostolisch denkenden Verstand vieler junger Studenten. Ich streckte die Hand aus wie ein Armer Christi... und erlebte manchen Hereinfall! [...]

Vielleicht basierte die Zurückhaltung der anvisierten Geber auf der Tatsache, daß ihnen seine Zensurvorstellungen bekannt waren und man nie wissen konnte, ob die Bücher seine Zustimmung finden würden:

Libros: no los compres sin aconsejarte de personas cristianas, doctas y discretas. – Podrías comprar una cosa inútil y perjudicial. ¡Cuántas veces creen llevar debajo del brazo un libro...y llevan una carga de basura! (339)

339 Du solltest Bücher nicht ohne den Rat kluger und erfahrener Christen anschaffen. Man kauft so leicht etwas Nutzloses oder Schädliches ein. Oft glauben Menschen, sie trügen unter dem Arm ein Buch... und tragen eine Ladung Schmutz!

Wieder sei kein Verlaß auf das eigene Urteilsvermögen. Vielmehr sollte dieses gar nicht zum Einsatz kommen, da man sich bei der geistigen Trennung des Mülls („basura“) bereits a priori der Autorität und ihren Beschlüssen zu unterwerfen habe. Wenn der Autor, wie weiland die Aufklärer, sich Gedanken über die öffentlichen Lustbarkeiten macht, so plädiert er für eine christliche Reform:

Urge recristianizar las fiestas y costumbres populares. –Urge evitar que los espectáculos públicos se vean en esta disyuntiva: o ñoños o paganos. [...] (975)

975 Volksfeste und Volksbräuche müssen wieder verchristlicht werden. – Auf jeden Fall sollte bei öffentlichen Veranstaltungen die Alternative vermieden werden, sie kindisch oder heidnisch aufzuziehen. [...]

Für die vermutlich kirchenkritischen Nachkommen der Aufklärer allerdings hat er nur Spott übrig. Als Entgegnung empfiehlt er, ihnen ihr unzeitgemäßes und überholtes Gedankengut vorzuwerfen, übersieht dabei aber den Anachronismus seines eigenen katholisch-imperialen Weltbildes:

¡Hombre! Ponle en ridículo. –Dile que está pasada de moda: parece mentira que aún hay gente empeñada en creer que es buen medio de locomoción la diligencia... –Esto, para los que renuevan volterianismos de peluca empolvada, o liberalismos desacreditados del XIX. (849)

849 Mensch! Mache ihn lächerlich. – Sag ihm, daß seine Einstellung veraltet ist: es ist kaum zu glauben, daß es noch Leute gibt, die sich in die Meinung verbohrt haben, die Postkutsche sei das beste Verkehrsmittel. Das gilt für jene, die das Zeitalter Voltaires mit den gepuderten Perücken erneuern wollen oder den überholten Liberalismus des 19. Jahrhunderts.

Wenn allerdings vom Gegner wirklich stichhaltige Argumente kommen, dann stecke der Teufel dahinter, und es verbiete sich jede Antwort außer einem Glaubensbekenntnis:

¡Con que infame lucidez arguye Satanás contra nuestra Fe Católica. Pero, digámoslo siempre, sin entrar en discusiones: yo soy hijo de la Iglesia. (576)

576 Mit welch infamem Scharfsinn argumentiert Satan gegen unseren katholischen Glauben! Aber sagen wir stets, ohne uns auf Diskussionen einzulassen: Ich bin ein Sohn der Kirche.

Dem Märtyrertum wird gar eine ästhetische Dimension zugesprochen:

¡Qué hermoso es perder la vida por la Vida! (218)

218 Wie schön ist es, das Leben um d e s Lebens willen zu verlieren!

Vernünftigerweise ließ der Autor sich diesbezüglich nicht hinreißen, als er während des Spanischen Bürgerkrieges im republikanischen Madrid dazu die Gelegenheit gehabt hätte, denn Geistliche mußten sich in der Tat vor dem „roten“ Terror fürchten. Er zog es vor, sich auf den Umweg über Lourdes zu Francos „nationaler“ Zone in Burgos durchzuschlagen.

Immer wieder gibt es in den Maximen Hinweise auf Gott, den Teufel und die Hölle. Und da letztere im Diskurs des 20. Jahrhunderts nicht mehr ganz so präsent waren, fühlt sich der Autor verpflichtet, stets auf ihre Existenz hinweisen zu müssen und eine Flüsterkampagne zur ihrer Bestätigung durchführen zu lassen:

Hay infierno. –Una afirmación que, para ti, tiene visos de perogrullada. Te la voy a repetir: ¡hay infierno! Hazme tú eco, oportunamente, al oído de aquel compañero... y de aquel otro. (749)

749 Es gibt eine Hölle. – Eine Feststellung, die dir eine Binsenwahrheit scheinen mag. – Ich wiederhole sie dir: Es gibt die Hölle! Gib das im richtigen Augenblick an jenen Freund weiter ... und an jenen anderen.

Wenn die christliche Kunst immer ungeheure Phantasie bei der Darstellung der Hölle und ihrer Qualen aufbrachte, so fehlen im Camino bei den vielen Erwähnungen der Hölle und des Teufels die entsprechenden schauderhaften Passagen (die hätten ja auch künstlerische Phantasie erfordert!). Aber auch den meisten christlichen Künstlern kommt diese Einbildungskraft abhanden, wenn es um die Darstellung des Himmels geht. Der Autor verheißt jedoch den Tugendhaften bereits zu Lebzeiten eine Art optische Dreidimensionalität mit Schwerkraft, die sich durchaus sinnlich wahrnehmen lasse:

La gente tiene una visión plana, pegada a la tierra, de dos dimensiones. –Cuando vivas vida sobrenatural obtendrás de Dios la tercera dimensión: la altura, y con ella, el relieve, el peso y el volumen. (279)

279 Die meisten Leute haben nur Augen für das Flache, für die Fläche der Erde, zweidimensional. Wenn du ein übernatürliches Leben führst, wirst du von Gott die dritte Dimension bekommen: die Tiefe, und damit das Relief, das Gewicht und die Fülle.

Escrivá de Balaguer scheint nicht viel für die demokratische Notwendigkeit des Kompromisses übrig zu haben:

La transigencia es señal cierta de no tener la verdad. –Cuando un hombre transige en cosas de ideal, de honra o de Fe, ese hombre es un... hombre sin ideal, sin honra y sin Fe. (394)

394 Die Nachgiebigkeit ist ein sicheres Zeichen, daß man nicht in der Wahrheit ist. – Wenn ein Mensch in Dingen der Ideale, der Ehre oder des Glaubens nachgibt, dann ist dieser Mensch... ein Mensch ohne Ideale, ohne Ehre und ohne Glauben.

Der Umkehrschluß dieser Maxime wäre dann „Die Unnachgiebigkeit ist ein sicheres Zeichen, daß man in der Wahrheit ist“. (*“La intransigencia es señal cierta de tener la verdad“) und stünde durchaus im Einklang mit seiner autoritären, elitären Grundhaltung:

¿No crees que la igualdad, tal como la entienden, es sinónimo de injusticia? (46)

46 Glaubst du nicht, daß die Gleichheit, wie manche sie verstehen, nur ein anderes Wort für Ungerechtigkeit ist?

Allerdings sollten bei aller Kompromißlosigkeit die Umgangsformen gewahrt bleiben, das eigene Durchsetzungsvermögen möge jedoch von brutalster Effizienz sein:

La santa intransigencia no es intemperancia. (396)

Sé intransigente en la doctrina y en la conducta. –Pero sé blando en la forma. Maza de acero poderosa, envuelta en funda acolchada. –Sé intransigente, pero no seas cerril. (397)

396 Die heilige Unnachgiebigkeit hat nichts mit Fanatismus zu tun.

397 Sei unnachgiebig in der Lehre und in deiner Lebensführung. – Aber sei konziliant in der Form. – Eine mächtige stählerne Keule in einem gepolsterten Futteral. Sei unnachgiebig, aber nicht halsstarrig.

Den Frauen wird im Camino eine untergeordnete Rolle zugewiesen. Es gibt nur wenige Hinweise auf die möglichen weiblichen Leserinnen des Camino[12], denn das Buch ist in erster Linie für den männlichen Leser geschrieben. Wenn der Autor einmal über ihre mögliche Brauchbarkeit reflektiert, dann zitiert er eine Stelle aus dem ersten Paulusbrief an die Korinther, in der ihnen dieser eine nützliche Funktion als Reisebegleiterinnen zugesteht. Daraus schließt Escrivá de Balaguer, daß ihnen eine mitwirkende Rolle im Apostolat zukommt:

[…] No es posible desdeñar la colaboración de la mujer en el apostolado. (980)

980 [...] – Es ist unmöglich, die Mitarbeit der Frau im Apostolat gering zu achten.

Allerdings haben Gelehrsamkeit und Weisheit bei ihnen einen nur bedingten, verzichtbaren Stellenwert:

[...] –ellas no hace falta que sean sabias: basta que sean discretas– [...] (946)

946 [...] die Frauen brauchen nicht gelehrt zu sein; es genügt, daß sie klug sind; [...]

Der Tugend der Diskretion ist ein eigenes Kapitel gewidmet (639–656). Sie kann bei Opferbereitschaft die geeignete Geisteshaltung sein (647), ist aber auch Teil des Rüstzeugs für den Kampf:

Nunca te habré ponderado con bastante encarecimiento la importancia de la discreción–Si no es el filo de tu arma de combate, te diré que es la empuñadura. (655)

655 Ich kann dir die Bedeutung der Diskretion nicht genug ans Herz legen. Vielleicht ist sie nicht die Spitze deiner Waffe, aber zumindest der Griff.

Von der Diskretion ist der Übergang zur Geheimnistuerei, die ja den Mitgliedern des Opus Dei immer wieder vorgeworfen wird, fließend. Sie berufen sich womöglich auf zwei Maxime im Camino, die die geheime Ausübung des Apostolats empfehlen:

Que pase inadvertida vuestra condición como pasó la de Jesús durante treinta años. (840)

[...] ser apóstol y no llamarte apóstol, ser misionero –con misión– y no llamarte misionero, ser hombre de Dios y parecer hombre del mundo: ¡pasar oculto! (848)

840 Eure Lebensweise soll verborgen bleiben wie die Lebensweise Jesu in den dreißig Jahren.

848 [...] Apostel sein und dich nicht Apostel nennen; Missionar mit Sendung sein und nicht Missionar heißen; Mensch Gottes sein und als Mensch der Welt erscheinen: verborgen bleiben!

Allgemeingültigkeit beansprucht die erste Maxime des Kapitels zur Diskretion, übersieht jedoch die Möglichkeit, daß beherztes Sprechen zur richtigen Zeit auch eine Tugend sein kann:

De callar no te arrepentirás nunca: de hablar muchas veces. (639)

639 Geschwiegen zu haben wirst du nie bereuen: gesprochen zu haben oft.

Auch fehlt die von der Kirche ständig suggerierte Selbstanmaßung als alleinige Moralinstanz nicht:

Cuando un seglar se erige en maestro de moral se equivoca frecuentemente: los seglares sólo pueden ser discípulos. (61)

61 Wenn ein Laie sich zum Sittenrichter aufspielt, irrt er nicht selten. Laien können da nur Schüler sein.

Hier werden dem Laien zwar Zufallstreffer in Moralfragen zugestanden, dem Priesterstand implizit jedoch Unfehlbarkeit. Infolge seines katholischen Weltbildes entgleitet dem Autor der Begriff des „Auserwählten“ nur einmal[13], es sind aber viele Hinweise auf die „Anderen“, wie etwa im folgenden Beispiel, bei dem der pietätvolle Usus der Schweigeminute herabgesetzt wird:

„Minutos de silencio“. –Dejadlos para los que tienen el corazón seco. Los católicos, hijos de Dios, hablamos con el Padre nuestro que está en los cielos. (115)

115 „Schweigeminuten“.– Die überläßt man besser den Menschen, deren Herz tot ist. Als katholische Christen und Kinder Gottes sprechen wir mit unserem Vater, der im Himmel ist.

Seine elitäre, überhöhte Selbsteinschätzung verrät er in einem gar unchristlichen, lieblosen Blick auf die „Masse“, die er mit einer Schweineherde vergleicht:

¡Qué pena dan las muchedumbres –altas y bajas y de en medio– sin ideal! –Causan la impresión de que no saben que tienen alma: son... manada, rebaño..., piara. [...] (914)

914 Die Menge tut einem leid. Die Hohen, die Niedrigen und die Mittleren – alle ohne Ideal! – Sie machen den Eindruck, als ob sie nicht wüßten, daß sie eine Seele haben. Sie sind wie... Rinderherden, Schafherden...., Schweineherden. [...]

Das Kapitel über die Armut („Pobreza“, 630–638) beginnt mit einer alten stoischen Einsicht:

No lo olvides: aquel tiene más que necesita menos. (630)

630 Denke daran: der hat mehr, der weniger braucht. – Schaffe dir keine Bedürfnisse.

Trotz seiner Überschrift enthält das Kapitel zugleich auch einen Hinweis, wie man mit dem doch eher wahrscheinlichen Zustand des Reichtums umgehen soll:

[...] –Si vienen a tus manos las riquezas, no pongas en ellas tu corazón. –Anímate a emplearlas generosamente. Y, si fuera preciso, heroicamente. –Sé pobre de espiritu. (636)

636 [...] Wenn Reichtum dir zufließt, hänge dein Herz nicht daran. – Zaudere nicht und verwende ihn großzügig. Notfalls sogar heroisch. Sei arm im Geiste.

Wenn also die Armut nicht möglich sein sollte, dann möge man zumindest innerlich arm bleiben. In der letzten Maxime des Kapitels wird dem Leser ohnehin eine Möglichkeit nahe gelegt, sein Geld – bis zum letzen Groschen – pietätvoll auszugeben. Sie beginnt mit einem salbungsvollen Ausruf:

¡Cuántos recursos santos tiene la pobreza! –¿Te acuerdas? Tú le diste, en horas de agobio económico para aquella empresa apostólica, hasta el último céntimo de que disponías. [...] –Aún te dura la persuasión de que quedaste bien pagado. (638)

638 Wie reich an Hilfsquellen ist die Armut! – Erinnerst du dich noch? Als jenes apostolische Werk in wirtschaftliche Bedrängnis geriet, gabst du ihm bis zum letzten Pfennig, was du hattest. [...] Noch immer bist du überzeugt, daß du kein schlechtes Geschäft machtest.

Den Dank, den der geistliche Nehmer umgehend ausspricht, ist die Verheißung von Gottes immerwährendem Segen. Diese etwas längere Maxime in dem an sich kurzen Kapitel endet mit der festen Überzeugung des Autors, daß der Geber reichlich entschädigt sei, wobei hier das aufschlußreichste Wort „persuasión“ sein dürfte.

Breiten Platz werden vom Autor den Praktiken der Buße und der Selbstkasteiung eingeräumt. Zwei aufeinander folgende Kapitel heißen „Mortificación“ und „Penitencia“ (172–234) und verherrlichen sehnsüchtig den Schmerz und das Leid:

Ningún ideal se hace realidad sin sacrificio. –Niégate. ¡Es tan hermoso ser víctima! (175)

Yo te voy a decir cuáles son los tesoros del hombre en la tierra para que no los desperdicies: hambre, sed, calor, frío, dolor, deshonra, pobreza, soledad, traición, calumnia, carcel... (194)

175 Kein Ideal wird ohne Opfer Wirklichkeit. – Verleugne dich selbst. Es macht so glücklich, sich aufzuopfern.

194 Ich nenne dir die wahren Schätze des Menschen auf dieser Erde, damit du sie dir nicht entgehen läßt: Hunger, Durst, Hitze, Kälte, Schmerz, Schande, Armut, Einsamkeit, Verrat, Verleumdung, Gefängnis...

Das seien die wahren Schätze und die diesseitigen Freuden dagegen werden milde belächelt und diskreditiert:

La alegría de los pobrecitos hombres, aunque tenga motivo sobrenatural, siempre tiene un gusto de amargura. –¿Qué creías? –Aquí abajo, el dolor es la sal de nuestra vida. (203)

203 Der Freude des armseligen Menschen haftet, auch wenn sie einen übernatürlichen Grund hat, immer ein Beigeschmack der Trauer an. – Was hattest du dir gedacht? – Hier unten ist der Schmerz das Salz unseres Lebens.

Das mystische Paradoxon des Johannes vom Kreuz und Teresa von Ávila – beide schrieben Gedichte mit dem Titel „Vivo sin vivir en mí“ („Ich lebe ohne in mir zu leben“) – findet sich in einer Maxime wieder:

Paradoja: para Vivir hay que morir[14]. (187)

187 Paradox: um zu leben, muß man sterben.

Das mystische Paradoxon wird jedoch von Escrivá de Balaguer zu einem masochistischen (Glück = Leid) erhöht:

Te quiero feliz en la tierra. –No lo serás si no pierdes ese miedo al dolor. Porque mientras „caminamos“, en el dolor está precisamente la felicidad. (217)

217 Ich will, daß du auf der Erde glücklich bist. – Das wirst du aber nie, wenn du nicht die Angst vor dem Schmerz verlierst. Denn solange wir „unterwegs“ sind, liegt unser Glück gerade im Schmerz.

Etwas menschenfreundlicher ist da schon folgende Maxime:

Busca mortificaciones que no mortifiquen a los demás. (179)

179 Wähle Abtötungen, die nicht die anderen abtöten.

Allerdings darf der „Director“ schon den ihm Unterstellten zur peniblen Einhaltung des Wochenplanes der Selbstkasteiung anhalten. Da es den schwachen Untergebenen ja große Mühe koste, müsse man ihm helfen, sich zur Selbstüberwindung selber zu täuschen:

[...] los chiquitines? –No quieren tomar la medicina amarga, pero...¡anda! –les dicen– esta cucharadita por papá; esta otra por tu abuelita... Y así, hasta que han ingerido toda la dosis. Lo mismo tú: un cuarto hora más de cilicio por las ánimas del purgatorio; cinco minutos más por tus padres; otros cinco por tus hermanos de apostolado... Hasta que cumplas el tiempo que te señala tu horario. [...] (899)

899 [...] – Hast du gesehen, wie leicht man die Kinder über etwas hinwegtäuschen kann? – Sie wollen die bittere Medizin nicht nehmen, aber man sagt ihnen: Komm! Dieses Löffelchen für den Papa, dieses für die Oma... und so weiter, bis sie die ganze Dosis geschluckt haben. Genau so du: noch eine Viertelstunde Bußgürtel für die Seelen im Fegefeuer, noch fünf Minuten für deine Eltern, weitere fünf für deine Brüder im Apostolat... Bis die Zeit erfüllt ist, die dein Stundenplan dir angibt. [...]

Dieser eindeutige Hinweis auf eine der berüchtigsten Praktiken des Opus Dei – das Tragen des mit Stacheln versehenen Bußgürtels[15] – steht bezeichnenderweise im Kapitel über die Vorteile des kindlichen Wesens im Erwachsenenalter! („Vida de infancia“, 875–901)

Das Kapitel „Mortificación“ gipfelt in und endet mit einer Maxime des Selbsthasses:

Agradece, como un favor muy especial ese santo aborrecimiento que sientes de ti mismo. (207)

207 Für diesen heiligen Abscheu, den du vor dir selbst empfindest, sei dankbar wie für eine besondere Gunst.

Die Auswahl der Zitate dürfte genügen, um zu zeigen, daß der Camino inhaltlich eine Ansammlung lebensfeindlicher, einem autoritären und undemokratischen Weltbild verpflichteter Sentenzen ist. Die Anlehnung des Autors an die literarische Gattung der Maxime erschöpft sich in den äußeren Merkmalen der Gattung: Es fehlt ihnen Wesentliches, nämlich die Mischung von geistiger Brillanz und stilistischer Konzision, die die gnomischen Formen auszeichnen und Erkenntniszuwachs ermöglichen sollten.[16]




  1. „In einer Welt der erschöpften Tugenden tut es Not, das Seziermesser bei all dem anzusetzen, das sich in unserer Zeit als tugendhaft ausgibt.“ (Übersetzung des Verfassers) Das Zitat ist entnommen aus Carlos Fuentes’ alphabetischer Essaysammlung, En esto creo (Barcelona: Seix Barral 2003, S. 307). Im Essay „Wittgenstein“ reflektiert er auch über Nietzsches Systemkritik und dessen Vorliebe für den Aphorismus: „La brevedad misma del aforismo ayuda a ver las cosas de otra manera y salir de las múltiples prisiones en que los sistemas filosóficos van encarcelando el pensamiento.“ („Die Kürze des Aphorismus hilft, die Dinge anders zu sehen und die Gedanken aus den vielen Kerkern, in denen sie die philosophischen Systeme gefangen halten, zu befreien.“ ibid., Übs. d. Verf.).
  2. Die Bezeichnung „Maxime“ hat sich in der Kritik eingebürgert: So nennen sie zum Beispiel der spanische Theologe Juan José Tamayo-Acosta („Una canonización inoportuna“ in: El País, 9. Jänner 2002) und der Kirchenhistoriker Michael Walsh (The Secret world of Opus Dei, London: Grafton Books, 1990, S. 106).
  3. Josemaría Escrivá de Balaguer (so lautet die endgültige Version seines mehrfach von ihm selbst veredelten Namens) wurde 1902 in Barbastro (Huesca) in Nordspanien geboren. Um Priester zu werden, studierte er ab 1918 in Logroño und in Zaragoza und begann 1923 auch Zivilrecht zu studieren. Seine erste priesterliche Tätigkeit findet in Zaragoza statt, und 1927 ist er bereits in Madrid, wo er auch in der Krankenseelsorge arbeitet und in Rechtswissenschaften promoviert. 1928 gründet er das Opus Dei für Männer, 1930 für Frauen und 1943 eine Gesellschaft für die im „Werk“ tätigen Priester. Der Ausbruch des Bürgerkriegs überrascht ihn im republikanischen Madrid. Auf dem Umweg über Südfrankreich gelingt es ihm, ins „nationale“ Burgos zu gelangen. Ab 1946 leitet er sein „Werk“, das Opus Dei, von Rom aus. 1968 erhält er den Titel Marqués de Peralta. Er stirbt 1975. Bei seinem Tode hatte der Opus Dei weltweit bereits über 60.000 Mitglieder. 1992 wurde er vom Vatikan selig und nur zehn Jahre später heilig gesprochen.
  4. Etwa die Kolonialgeschichtsschreibung eines Bernal Díaz de Castillo oder des Fray Bartolomé de las Casas, die Schriften der Heiligen Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz, die Essays von Ortega y Gasset oder des Politikers Manuel Azaña.
  5. Das Standardwerk zur modernen französischen Aphoristik des Jubilars bietet einleitend einen guten Überblick über die verschiedenen Definitionskriterien (vgl. Werner Helmich: Der moderne französische Aphorismus: Innovation und Gattungsreflexion. Tübingen: Niemeyer 1991, S. 8ff.)
  6. Zumindest wird diese Jugendlichkeit durch den paternalistischen, belehrenden Ton des „Padre“ suggeriert. Wenn Mitglieder des Opus Dei von ihrer Organisation sprechen, bevorzugen sie die Bezeichnung „la obra“ (das Werk).
  7. Nr. 134: „[...] aunque la carne se vista de seda, carne se queda“, ersetzt das im Sprichwort übliche Nomen „mona“ (Äffin) mit „carne“. (Auch wenn das Fleisch sich in Seide kleidet, Fleisch bleibt Fleisch.) Siehe auch Nr. 983: „Comenzar es de todos; perseverar, de santos.“ („Anfangen tun alle; ausharren – die Heiligen.“)
  8. Nr. 145: „Corazones partidos / yo no los quiero; / si le doy el mío, / lo doy entero.“ („Geteilte Herzen sind nicht mein Sinn; / wenn ich meins gebe, geb ganz ich’s hin.“)
  9. „Amor“ schreibt er hier, wie des öfteren auch im restlichen Werk, mit Majuskel, um es von der menschlichen Liebe („amor“) abzuheben.
  10. Die Mehrdeutigkeit des Begriffes „criterio“ wird in der kirchlich approbierten Übersetzung (s. Fußnote 16) beide Male mit der Metapher der Klarheit wiedergegeben: „[damit du] am Ende ein Mensch bist, der klar sieht.“ „Wenn du Angst hast, den Dingen auf den Grund zu gehen, wirst du nie ein klarer Kopf.“
  11. „Así, cuando en una nación la masa se niega a ser masa –esto es, a seguir a la minoría directora–, la nación se deshace, la sociedad se desmembra y sobreviene el caos social, la invertebración histórica.“ In: José Ortega y Gasset: España invertebrada. Madrid: Espasa- Calpe 31972, (= Colección Austral, Nr. 1345, S. 100). („Wenn sich also in einer Nation die Masse weigert, Masse zu sein – will sagen, der Führungsschicht zu folgen – löst sich die Nation und die Gesellschaft auf und es kommt zum sozialen und geschichtlichen Zusammenbruch. (Übs. d. Verf.)
  12. Etwa Nr. 215, Nr. 937 und Nr. 981. In dieser letzteren heißt es „[...] si alguna mujer me lee [...]“ was eigentlich „wenn irgendeine Frau mich liest“ heißt; die kirchlich approbierte Übersetzung weicht wieder vom Sinn des Originals ab: „[…] dass jede Frau, die das liest[…]“, was um einiges frauenfreundlicher wirkt.
  13. Nachdem die katholische Kirche im 17. Jahrhundert den Streit Prädestination/Freier Wille zugunsten des letzteren entschied, ist diesbezüglich für einen orthodoxen Katholiken Vorsicht geboten. In der Maxime Nr. 523 ist jedoch vom Auserwählten die Rede: „[...] Tu cristiano –y cristiano escogido–, debes aprender a cantar liturgicamente.“ („[...] Du Christ, auserwählter Christ – mußt lernen, liturgisch zu singen.“)
  14. Cf. San Juan de la Cruz: Obras escogidas. Madrid: Espasa Calpe 71974, S. 30f. – Santa Teresa de Jesús: Obras completas. Madrid: Aguilar 111974, S. 713. In diesem Kapitel „Mortificación“ in der Maxime Nr. 182 befindet sich ein weiteres Zitat aus der Vida der Heiligen Teresa: „Bebamos hasta la última gota del cáliz del dolor en la pobre vida presente. –¿Qué importa padecer diez años, veinte, cincuenta..., si luego es el cielo para siempre... para siempre? [...]“ (Nr. 182 „Wir wollen in dem armen gegenwärtigen Leben den Leidenskelch bis zum letzten Tropfen leeren. – Was bedeuten zehn, zwanzig oder fünfzig Jahre Leid, wenn dann die Herrlichkeit kommt, für immer, für immer, für immer?“) Vergleiche dazu das 1. Kap. der Vida der Heiligen (S. 55), als sie vom Eindruck berichtet, den die Ewigkeit der Höllenqualen oder der Seligkeit im Himmel auf sie und ihren fast gleichaltrigen Bruder Rodrigo im Kindesalter machte: „Espantábanos mucho el decir que pena y gloria era para siempre, en lo que leíamos. Acaecíanos estar muchos ratos tratando de esto y gustábamos de decir muchas veces: ¡para siempre, siempre, siempre!“ („Wir hatten immer große Angst, als wir lasen, daß Verdammnis und Seligkeit für immer seien. Wir sprachen oft darüber und es gefiel uns, ‘auf immer und ewig, auf immer und ewig‘ immer wieder zu sagen.“ Übs. d. Verf.)
  15. Diese Methode der Selbstkasteiung ist dank des Bestsellers The Da Vinci Code von Dan Brown (Doubleday: New York 2003) schon in die – für den Opus Dei nicht gerade enkomiastische – Popularmythologie eingegangen.
  16. Der Kirchenhistoriker Michael Walsh (The Secret world of Opus Dei. London: Grafton Books 1990, S. 109) sieht in der aufstrebenden spanischen Mittelklasse den wichtigsten Adressaten des Camino und des Opus Dei: „While neither El Camino [sic] nor the 1950 Constitutions of Opus Dei give much evidence of any deep spiritual understanding on the part of their author, they set up a style of spirituality reduced to external practices in which it is easy to find security. [...] It is Mgr Escrivá’s genius to have concocted a manner of life especially suited to the bourgeoisie, the growing middle-class of Spain from the mid-1940s onwards.“




Dieser Aufsatz erschien ursprünglich in der Festschrift zu Ehren des Grazer Romanisten Werner Helmich:

Pensées – Pensieri – Pensamientos : Dargestellte Gedankenwelten in den Literaturen der Romania, hsg. v. Klaus-Dieter Ertler und Siegbert Himmelsbach, Lit Verlag: Wien, 2006. S. 287 – 300. (= Austria: Forschung und Wissenschaft, Literatur, Band 4)

Für die Deutsche Version der verwendeten Zitate aus Camino wurde die von faschistischer Terminologie bereinigte, kirchlich approbierte Übersetzung verwendet:

Josemaría Escrivá de Balaguer: Der Weg. Köln: Adamas Verlag 1983, 10. Auflage, Mit kirchlicher Druckerlaubnis. (Entnommen aus dem Internet: www.escriva-info.de/Der_Weg.pdf ).

(Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Autors)